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Auf gute Nachbarschaft

Wohnungen werden in Metropolen weltweit dringend gebraucht. Doch schnelles Schaffen neuen Wohnraums muss nicht in Architektur münden wie einst der DDR-Plattenbau. In Berlin haben Heide & von Beckerath ein Gebäude geschaffen, das kosteneffizientes Bauen mit dem DDR-Design versöhnt. In der Schweiz nimmt sich Architekt Heinrich Degelo bei der Innenarchitektur zurück und gibt den Bewohner:innen volle Gestaltungsfreiheit. Im trubeligen Seoul schafft das Büro Archihood WXY mit innovativ platzierten Balkonen wertvolle Privatsphäre für die Bewohner.

Architekt:innen in Berlin, Basel und Seoul zeigen, wie das urbane Wohnen der Zukunft aussieht: ökologisch, gemeinschaftlich und bezahlbar.

© Barbara Bühler
Wohnungsbau, Paul-Zobel-Straße, Berlin © Andrew Alberts

In das Viertel Fennpfuhl im Berliner Stadtteil Lichtenberg verirren sich nur wenige Touristen, obwohl die Gegend sehr interessant ist. Denn hier wurde zu Anfang der Siebziger Jahre in der DDR an der Zukunft des Wohnens gearbeitet. Die DDR-Regierung versuchte in ihrem Wohnungsbauprogramm mit Hilfe industrieller Fertigungsmethoden den Wohnungsmangel zu bekämpfen und entwickelte den heute viel geschmähten Plattenbau.

In diesem Umfeld – Platte pur – hat das Berliner Architekturbüro Heide & von Beckerath einen Wohnungsbau im Auftrag der städtischen Berliner Wohnungsbaugesellschaft HOWOGE realisiert. Die Ausgangslage war gar nicht so viel anders als zu DDR-Zeiten: In Berlin ist der Wohnraum äußerst knapp geworden. Seit 2008 sind die Mieten um 350 Prozent gestiegen. Selbst für die Mitte der Gesellschaft ist es schwierig geworden, eine Wohnung zu finden.

Wohnungsbau, Paul-Zobel-Straße

Architekt:
Heide & von Beckerath

Ort:
Berlin, Deutschland

BGF:
7922 qm

Jahr:
2017-2019

Neuer Wohnraum wird in den Metropolen weltweit dringend benötigt.

Die Rezepte der Moderne mit ihren gleichförmigen Standards werden heutigen Gesellschaften mit ihren vielfältigen Lebensentwürfen aber nicht mehr gerecht. Auch Anforderungen an die Ökologie haben sich stark geändert. Heide & von Beckerath standen deshalb vor der Herausforderung, kostengünstig zu bauen, dabei aber die Fehler der Platte zu vermeiden. Entstanden sind auf 4.000 Quadratmetern zwei durch einen flachen Sockelbau verbundene achtgeschossige Wohntürme. Von den insgesamt 69 neuen Wohnungen sind ein Drittel sozial gefördert mit Einstiegsmieten von 6,50 Euro pro Quadratmeter.

Grundriss, Wohnungsbau, Paul-Zobel-Straße © Heide & von Beckerath
Innenansicht, Wohnungsbau, Paul-Zobel-Straße © Heide & von Beckerath

Elemente aus dem Plattenbau neu interpretiert

Fassade und Balkone, Wohnungsbau Paul-Zobel-Straße, Berlin © Andrew Alberts

Kosten zu senken bedeutet für die Berliner Architekten das Bauen zu vereinfachen, ohne dabei die Architektur aufzugeben. „Bei diesem Projekt gibt es nur ganz wenige Elemente, erklärt Architekt Tim Heide. „Diese versuchen wir im Sinne eines innovativen architektonischen Konzepts in Zusammenarbeit mit der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft neu zu kombinieren.“ Bei dem Berliner Wohnungsbau sind die Fenster und Balkone im Format identisch. Deren unterschiedliche Verteilung an der Fassade sowie das Auskragen der Balkone um ungewöhnliche 2,70 Meter durchbricht die serielle Monotonie des herkömmlichen Plattenbaus. Bei den Brüstungen der Balkone und beim Vordach des Sockelgebäudes kommen Betonfertigteile zum Einsatz. Diese Referenz an die DDR-Baukultur kombinieren Heide & von Beckerath mit hochdämmenden Blähbetonsteinen bei den Außenwänden und können so auf ein Wärmedämmverbundsystem verzichten.

Die Architekten verbinden moderne ökologische Anforderungen mit denen einer ökonomischen Bauweise, wie sie in der DDR praktiziert wurde.

Die Erdgeschossproblematik lösen die Planer durch eine lebendige Nutzungsvielfalt. Die dort entstanden Kleinstwohnungen haben einen eigenen Zugang sowie eine kleine Außenterrasse, was sie attraktiver macht. Außerdem ist eine deutsch-russische Kita eingezogen. Statt einer Tiefgarage gibt es Fahrradräume mit Fallschiebetüren zum Hof. Die Bewohner:innen können die ungewöhnlich großen Flächen ausräumen und dort gemeinsam Feste feiern. In den Regelgeschossen befinden sich Wohnungen mit 2 – 5 Zimmern, alle mit gleichem Kern, der auch den Übergang zwischen den Räumen darstellt. „Der Übergang kann wahlweise mit einer Tür verschlossen werden. Ohne Tür wird die Wohnung zum Loft mit einem offenen Grundriss“, erklärt Heide. Ein minimaler, fast kostenneutraler Eingriff verändert den Charakter der Wohnung grundlegend und macht eine flexible Nutzung möglich.

Gestaltungsfreiheit für die Bewohner:innen

Noch mehr Freiheit gegenüber den Standards des Wohnens nimmt sich der Architekt Heinrich Degelo bei seinem Künstler:innen- und Atelierhaus in Erlenmatt, einem Stadtteil von Basel. Das Projekt hat eine Künstler:innengruppe als Genossenschaft realisiert. Eine Stiftung vergab als Bauträgerin Grundstück und Gebäude an die Genossenschaft im Erbpachtrecht, das in der Schweiz auf maximal 100 Jahre begrenzt ist. Bewusst wollten die Künstler:innen einer Eigentumsbildung vorbeugen und so das Wohnen dem Markt entziehen.

Künstlerateliers, Erlenmatt Ost

Architekt:
Degelo Architekten

Ort:
Erlenmatt, Basel, Schweiz

BGF:
2600 qm

Jahr:
2018-2019

Sanitärelement, Künstler:innen- und Atelierhaus Erlenmatt © Degelo Architekten

Die Bewohner:innen finden in ihren Wohnungen beim Einzug nur noch ein Sanitärelement. „Auf der einen Seite sind Dusche, Lavabo und WC angebracht, auf der anderen Seite die Anschlüsse für die mit enthaltenen Kücheelemente, erklärt Degelo. Es gibt in den Wohnungen keine vom Architekten geplanten Innenwände. Die Bewohner:innen entscheiden selbst über die Position sowie das Material der Wände und haben diese fast alle eigenhändig eingebaut.

Der Architekt nimmt sich in seiner Planungshoheit zurück und zeigt sich sehr zufrieden:

„Nach einer ersten Phase des sich Einfühlens und Einrichtens sind nun die Genossenschafter:innen auch zu Bewohnern:innen geworden. Es ist faszinierend wie vielfältig und ideenreich die Ausstattungen geworden sind.

Degelo Architekten verabschieden sich radikal von allen Wohnstandards und verzichten dabei sogar auf die Heizung. Die Wärme wird in den Wohnungen nur durch die Einstrahlung der Sonne erzeugt sowie die Abwärme von Kühlschrank, Licht oder Elektrogeräten. Im Verbund verbaute, porosierte Backsteine bei den Außenwänden sowie dreifachverglaste Fenster halten die Dämmwerte hoch. Ein Sensor reguliert im Winter und Sommer über die Fensteröffnung die Temperatur auf 22 – 25 Grad. Die Künstler:innen arbeiten und leben auf den im Durchschnitt rund 130 Quadratmeter großen Wohn- und Atelierflächen, einige sogar mit Kindern. Sie genießen Gestaltungsfreiheit, ökologische Bauweise und Mieten von 10 Franken pro Quadratmeter. Neubauten in der Nachbarschaft verlangen 30 Franken.

Licht und Ventilation gegen triste Wohnblöcke

Das Gap House vom Architekturbüro Archihood WXY aus Südkorea ist ein Beispiel dafür, dass gemeinschaftliche Wohnkonzepte auch in einem extrem dichten städtischen Umfeld realisiert werden können. Das Gap House ist in einer Gegend in Seoul entstanden, die sehr beliebt ist bei Student:innen und jungen Berufstätigen. Das hat zum Bau dicht gedrängter Wohnblöcke geführt, die auf eine optimale Flächennutzung und deren Profit orientiert sind. Die anonymen Wohnblocks bieten keine Gärten oder Außenflächen, was sie zu reinen Schlafstätten ohne Aufenthaltsqualität macht.

Wohnungsbau, Gap House

Architekt:
Archihood WXY

Ort:
Seongnam, Seoul, Südkorea

BGF:
596 qm

Jahr:
2014-2015

Archihood WXY versuchen, das Konzept des tristen Wohnblocks mit dunklen Fluren zur Erschließung aufzubrechen.

Ihr Gebäude ist um einen großen Innenhof gruppiert, der den Wohnungen zusätzliches Licht und Ventilation bringt. Das Atrium funktioniert für die Bewohner:innen wie ein Garten und bietet die Möglichkeit zum Rückzug. Auf den Etagen sind weitere Gemeinschaftsflächen für Küche, Wohnzimmer, Toilette untergebracht. Die Balkone laufen wie Kanäle durch das Gebäude, was den Namen Gap House erklärt. Diese ebenfalls gemeinschaftlich genutzten Außenflächen bieten den Bewohner:innen mehr Privatsphäre als ungeschützte, auf die Fassade aufgesetzte Balkone.

Das Gebäude zeigt im Gegensatz zu seiner Nachbarschaft viel Wille zur Gestaltung. Der Block wirkt wie aus vier Häusern zusammengesetzt mit Akzenten durch die profilierten Giebel auf den Ecken. Im Inneren finden sich unverfälschte Materialien wie Holz am Boden oder Sichtbeton in den Treppenhäusern, was für Atmosphäre sorgt. Die durchdachte Gestaltung des Gebäudeblocks verstärkt die Identifikation der Bewohner:innen mit ihrer Wohnumgebung und wirkt auch damit der Anonymität des urbanen Lebens entgegen.

Die Projekte aus Deutschland, der Schweiz und Südkorea sind Beispiele für Wohnformen, die auf neue Bedürfnisse des Bauens und Zusammenlebens reagieren. Die Architekt:innen begegnen den immer wichtiger werdenden ökologischen Anforderungen nach klimafreundlichem und ressourcenschonendem Bauen. Statt Renditeerwartungen bedienen sie die gestiegene Nachfrage nach bezahlbarem Wohnen.

Lebensqualität durch Gemeinschaft und nachbarschaftliche Beziehungen sind den Architekt:innen und Bewohner:innen wichtiger als Luxusversprechen und laute Wow-Effekte. Statt der immer gleichen Standards bei Grundrissen und Ausstattung bieten die neuen Wohntypen den Nutzer:innen Flexibilität und bedienen so ein ganz anderes Grundbedürfnis: Das nach Freiheit.

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